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Barock + Moderne: Caserta

Reggia di Caserta

Abb. 1: Reggia di Caserta, Stadt zugewandte Hauptfassade, ab 1752

1.) Die Reggia di Caserta: Ein Einstieg

Die Reggia di Caserta (reggia = ital. für königlicher Palast/ Abb.1) wurde zwischen 1751 und 1774 nach den Plänen des Architekten Luigi Vanvitelli (1700-1773) erbaut. Der Auftrag zu dieser streng symmetrischen Anlage geht auf Karl VII. von Neapel (1716-1788/ Abb. 2) zurück, der als König aus dem Haus Bourbon von 1734 bis 1759 das kleine Königreich im Süden Italiens regierte.

Das Schloss liegt etwa 30 km nördlich von Neapel entfernt in der Provinz Caserta. Mit einer Ausdehnung von 253 (Hauptfassade) x 200 Metern (Seitenflügel) sowie einer Höhe von 41 Metern zählt der rechteckige Bau zu den größten barocken Schlossanlgen in Europa. Hinter der geschlossenen, in die Länge gezogenen Fassade berherbergt der Palast 1217 Räume. Darüber hinaus ist das Schloss von einem weitläufigen, etwa 100 Hektar großen Park umgeben, der für seine drei Kilometer lange Wasserstraße und die barocken Brunnen mit aufwendigem Skulpturenprogramm berühmt ist.

2.) Ein Staatsschloss nach französischem Vorbild

Karl von Bourbon, König von Neapel und Sizilien

Abb. 2: Giuseppe Bonito, Karl von Bourbon - König von Neapel und Sizilien, ca. 1745, Öl auf Leinwand, 128 x 103 cm, Madrid Museo del Prado

Als Karl VII., Sohn des spanischen Königs Philipp V. und dessen Frau Elisabetta Farnese, in Folge des Polnischen Thronfolgekrieges mit 18 Jahren König von Neapel wurde, mangelte es in der Stadt zunächst an Repräsentationsbauten, die der aufwendigen barocken Hofhaltung des 18. Jahrhunderts gerecht werden konnten. Dies gilt sowohl für die wehrhaften Kastelbauten des Mittelalters und der Renaissance, wie zum Beispiel das Castel Nuovo, als auch für den Palazzo Reale, dessen Instandhaltung seit der Regierungszeit der österreichischen Vizekönige vernachlässigt worden war. Zwar ließ Karl VII. den Palazzo Reale überaus aufwendig um das barocke Teatro di S. Carlo erweitern. Doch das besondere Augenmerk des jagdbegeisterten Königs galt vor allem der Errichtung zahlreicher herrschaftlicher Schlösser und Villen (Siti reali), darunter die Reggia di Capodimonte, die sich alle in unmittelbarer Umgebung zu der Hauptstadt seines Reiches befanden. Durch diese zum Teil repräsentativen Bauten verlagerte sich das höfische Leben Neapels allmählich von der Stadt in die ländlichen Regionen. Als Höhepunkt der Siti reali entstand ab 1751 schließlich der Palazzo Reale in Caserta - als herrschaftlicher Palast. Dem Schloss war eine tragende Rolle zugedacht, denn Karl VII. wollte daraus, nach dem Vorbild des Schlosses von Versailles in Frankreich, das zukünftige machtpolitische Zentrum seines Reiches machen. Neben den Wohnappartements der königlichen Familie, einem Hoftheater und einer Kapelle sollte das Schloss daher sämtliche Ministerien und den gesamten Verwaltungsapparat des Königreiches Neapel aufnehmen. Damit kam dem Bau eine weit komplexere Funktion als die eines Jagd- oder Lustschlosses zu - ein Umstand, der sich noch heute in der monumentalen Architektur des Schlosses und in der strengen axialen Ausrichtung der Anlage ausdrückt: Eine kilometerlange Achse verbindet Neapel mit Caserta und führt weiter durch die Mittelachse des Schlosses hindurch bis hinaus in den Park und endet drei Kilometer nördlich in einer großen Kaskade, die die Wasserspiele des Gartens speist. Der Architekt Luigi Vanvitelli wurde damit zum eines barocken Gesamtkunstwerks, das tatsächlich nahezu dieselben Dimensionen wie die Residenz des Sonnenkönigs, des Urgroßvaters Karl VII., in Versailles erreicht.

Ähnlich wie in Versailles sollte der Palast von Caserta auch Ausgangspunkt einer rational durchdachten, d.h. in regelmäßigen Strukturen angelegten Planstadt werden. Die Visualisierung hierzu lieferte ebenfalls Vanvitelli (Abb. 4 und 5). Während die Grundsteinlegung des Schlosses tatsächlich am 20. Januar 1752, dem 37. Geburtstag des Königs erfolgte, wurden von der rasterförmig-geplanten Stadt jedoch lediglich die beiden geschwungenen Flügel, die den Platz unmittelbar vor dem Schloss einfassen, zur Hälfte umgesetzt. Während der gesamten Planungs- und Bauphase erfuhr Vanvitelli stets die Unterstützung der sächsischen Prinzessin Maria Amalia, die Karl VII. 1738 heiratete. Sie war es, die den Ausbau Casertas zur Residenzstadt fokussierte, nachdem sie Königin von Neapel geworden war.

Einhergehend mit den Planungen für das neue Staatsschloss und die Planstadt Caserta ließ Karl VII. mit der Unterstützung spanischer Hofbeamter, die ihn vom Hof der Eltern in Madrid nach Neapel begleiteten, in dem Königreich Neapel wegweisende Reformen durchführen. Hierzu gehörte die Ausarbeitung einer allgemeingültigen Gesetzessammlung, die es bis dahin nicht gab. Ziel dieser Maßnahmen war es, nach dem Vorbild Ludwig XIV., die Macht auf die Person des Königs zu konzentrieren und den neapolitanischen Adel möglichst an den Hof in Caserta und an die Krone zu binden. Dies geschah sowohl mit Hilfe einer aufwendigen Prachtentfaltung, die sich im Schloss von Caserta wiederspiegelt, als auch durch die gezielte Vergabe prestigeträchtiger Hofämter. Die Umsetzung dieser Ideen, die zu den Grundsätzen der absolutistischen Staatsführung gehören, wurde mit dem Weggang Karl VII. aus Neapel im Jahr 1759 und seiner Thronbesteigung als König Karl III. von Spanien jedoch weitestgehend aufgegeben.

Karls Sohn, Ferdinand IV. (1751-1825), ließ zwar das Schloss von Caserta vollenden - auf ihn geht vor allem die Ausgestaltung der Repräsentationsräume im ersten Obergeschoss sowie die Vollendung der Brunnenanlagen im Park zurück - der neue König verlor aber generell das Interesse an dem ambitionierten Projekt des Vaters. Er konzentrierte sich stattdessen auf die Begründung einer Seidenindustrie in dem nordwestlich des Schlossparks von Caserta gelegenen Ort San Leucio, der als in sich geschlossene, industrielle Kolonie ausgebaut werden sollte. Doch auch dieses Vorhaben des Königshauses Bourbon in Neapel blieb auf Dauer ohne nachhaltigen Erfolg.

3.) Das Schloss: Eine Baubeschreibung

Um die Bedeutung der Reggia di Caserta als Staatsschloss hervorzuheben und den Vergleich mit anderen Schlossbauten möglich zu machen, sollen in diesem Kapitel der komplexe Grundriss, die Struktur der Fassaden sowie die Aufteilung und Gestaltung der zentralen Innenräume beschrieben werden.

Der Grundriss

Der Grundriss des Schlosses folgt in seiner Struktur einem Querrechteck (Abb. 7-9) und entspricht damit einer klassischen Vierflügelanlage. Im Inneren der Anlage kreuzen sich zwei weitere Flügel, wodurch der Bau insgesamt über vier Innenhöfe verfügt. Den Kreuzungspunkt der beiden axial-ausgerichteten Binnenflügel füllt ein imposantes Vestibül aus, das sowohl den ideellen als auch den tatsächlichen Mittelpunkt des Schlosses ausmacht. Von diesem zentralen Vestibül aus sind alle vier Innenhöfe mittels diagonaler Durchgänge erreichbar. Außerdem führt von hier aus eine  barocke Zeremonientreppe über zwei Rampen in ein weiteres Vestibül gleicher Größe im ersten Obergeschoss. Treppenhaus und Vestibül sind unbestritten als das zentrale architektonische Motiv der Reggia di Caserta zu werten.

Der Grundriss des Erdgeschosses (1) zeigt, dass alle vier Innenhöfe durch Portale in der Süd- und Nordfassade auch von außen zu erreichen sind (Abb. 7). Desweiteren bestehen Verbindungen zwischen den Höfen. Der vom Eingangsportal bis zum Durchgang auf der Parkseite verlaufende innere Längsflügel ist als dreischiffige Wandelhalle gestaltet, deren Zentrum das oktogonale Vestibül bildet. Von hier aus sind über den nordwestlichen Innenhof das Theater im Westflügel sowie über die barocke Prunktreppe das erste Obergeschoss (piano nobile) zu erreichen. Vestibül und Treppenhaus bringen die Monumentlität des Regierungsschlosses Karl VII. zum Ausdruck. Die Vielzahl kleinerer Räume, die der Grundriss des Erdgeschosses ebenfalls aufweist, diente der Unterbringung der Ministerien und des Verwaltungsapparates des Königreiches Neapel.

Der Grundriss des piano nobile (2) zeigt die Anordnung der Appartements der königlichen Familie: Von dem oberen Vestibül ausgehend, waren nach Süden die des Königs und nach Norden die der Königin vorgesehen. Beiden Wohnungen sind eine Reihe repräsentativer Wach- und Paradesäle vorangestellt (Abb. 8). Erst im Anschluss daran folgten im Südflügel auf westlicher Seite die Privatgemächer des Königs und an gleicher Stelle im Nordflügel die Gemächer der Königin. Über eine langgezogene Königinnengalerie konnte letztere das gemeinsame Schlafzimmer erreichen. Auf östlicher Seite des piano nobile waren die Appartements des Thronfolgers und aller Nachkommen des Königspaares untergebracht. Die Trennung der Geschlechter erfolgte auf dieselbe Weise wie auf der Seite der Eltern im Westflügel. Im piano nobile befindet sich gegenüber des Treppenhauses und damit im Inneren des westlichen Querflügels auch der offizielle Zugang zur Schlosskappelle.

Der Grundriss des zweiten Obergeschosses (3) weist viele kleine Kammern auf (Abb. 9), die vor allem als Wirtschaftsräume und Küchen sowie zur Unterbringung der Dienerschaft genutzt wurden. Der Grundriss lässt außerdem erkennen, dass die Schlosskapelle in der Höhe auch das zweite Obergeschoss einnimmt.

Das Äußere des Schlosses

Reggia di Caserta, Südfassade, ursprünglicher Entwurf

Abb. 10: Südfassade, Vanvitellis ursprünglicher Entwurf

Reggia di Caserta, Nordfassade, ursprünglicher Entwurf

Abb. 11: Nordfassade, Vanvitellis ursprünglicher Entwurf

Reggia di Caserta - Ansicht der Nordfassade (Gartenseite des Palastes)

Abb. 12: Reggia di Caserta, Nordfassade (Gartenseite), heutige Ansicht der Fassade

In ihren wesentlichen Gestaltungsmerkmalen stimmen Süd- und Nordfassade überein (Abb. 10 und 11). Beide gliedern sich in 37 Fensterachsen und fünf Geschosse, davon jeweils drei Voll- und zwei Mezzaningeschosse (d. h. Halb- bzw. Zwischengeschosse). Das Sockelgeschoss, welches ein Haupt- und ein Mezzaningeschoss umfasst, wird durch glattes Qudermauerwerk hervorgehoben (Abb. 1). Die übrige Fassade ist verputzt. Gesimszonen zwischen dem Sockelgeschoss und dem piano nobile sowie zwischen dem zweiten Obergeschoss und dem oberen Mezzaningeschoss tragen zu einer betonten horizontalen Gliederung der Schlossfassade bei. Vanvitelli hat den Palast ursprünglich wesentlich aufwendiger, mit einer zentralen Kuppel und optisch zu Türmen erhöhten Eckrisaliten, geplant (Abb. 10 und 11). Da es zur Ausführung dieser markanten architektonischen Merkmale nicht kam, fehlen diese vertikalen Akzente im äußeren Erscheinungsbild des Baus heute. Umgesetzt wurden dagegen sowohl auf der Stadt- als auch auf der Park zugewandten Seite die symmetrische Gliderung durch jeweils einen Mitteltrisalit und zwei Eckrisalite (Abb. 1 und 12).

Das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen der Fassade der Süd- und der Nordseite stellen die Kolossalpilaster dar, die sich auf der Gartenseite nicht nur rechts und links eines jeden Risalits befinden, sondern die gesamte Fassade durchgängig gliedern (Abb. 12). Hierdurch erscheint die Nordfassade konsequenter rhythmisiert als ihr Pendant auf südlicher Seite. 

Als Bekrönung der Fenster wechseln sich am gesamten Bau Dreiecks- und Segmentgiebel ab. Dies gilt nicht allein auf Höhe eines Geschosses, sondern auch zwischen den Etagen. Nach demselben Prinzip sind auch die Fenster der vier Innenhöfe gestaltet (Abb. 13).

Reggia di Caserta - Blick in einen Innenhof mit wechselnden Giebelformen über den Fenstern

Abb. 13: Reggia di Caserta, Blick in einen Innenhof mit wechselnden Giebelformen über den Fenstern, heutige Ansicht

Das Innere des Schlosses

Skulpturen im Prunktreppenhaus der Reggia di Caserta

Abb. 14: Reggia di Caserta, Die Allegorien der Königlichen Hoheit (Mitte), des Verdienstes (links) und der Wahrheit (rechts) im Prunktreppenhaus

Das Herzstück der Architketur im Inneren des Schlosses bilden Vanvitellis oktogonale Vestibüle im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss, deren äußere Gestalt durch massive Pfeiler und zahlreiche Säulen in toskanischer (Erdgeschoss) und ionischer Ordnung (erstes Obergeschoss) bestimmt wird. Das Treppenhaus ist kostbar mit verschiedenfarbigen Marmorplatten ausgekleidet (Abb. 14 und 15). Auf halber Höhe der Treppe sind die Skulpturen zweier wachender Löwen aufgestellt. In drei Nischen an der Wand darüber befinden sich zudem Skulpturen (ca. 1776), die von links nach rechts Allegorien des Verdienstes (mit Schwert), der Königlichen Herrschaft (mit Krone und Zepter und auf einem Löwen sitzend) und der Wahrheit (mit dem Licht in der Hand) repräsentieren (Abb. 14). An der Decke verweist ein ovales Gemälde auf das Reich des Apoll, umgeben von kleineren Darstellungen der vier Jahreszeiten. Von einem Treppenabsatz aus eröffnet sich der Blick in beide Vestibüle, wodurch der kulissenhafte Charakter von Vanvitellis monumentaler Raumschöpfung wirkungsvoll zum Ausdruck kommt (Abb. 15). Die Treppe führt anschließend doppelläufig weiter in das obere Vestibül.

Dort angekommen, befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite der Zugang zur Schlosskapelle (Abb. 16). Mit ihrem dreizonigen Wandaufbau ist sie nach dem Vorbild der Schlosskapelle von Versailles (Abb. 17) gestaltet, womit Vanvitelli einem Wunsch Karl VII. entsprochen hat: Über einer Pfeilerkolonnade [1] (in Versailles sind es Bögen) erheben sich auf Höhe der Empore [2] schlanke Säulen, die den Obergaden [3] tragen. Anders als in Versailles sind es in Caserta kürzere und breitere Doppelsäulen und die Fenster des Obergadens haben die Form von Ochsenaugen.

Die Paraderäume und Appartements, die vom oberen Vestibül abgehen, erfuhren im 19. Jahrhundert unter Ferdinand IV. und seinen Nachfolgern erhebliche Veränderungen. Es soll beispielhaft nur auf den Thronsaal (Abb. 18) im südwestlichen Flügel verwiesen werden, dessen Umgestaltung von 1839-1845 unter Ferdinand II., König beider Sizilien und Enkel Ferdinand IV., erfolgte. Die kolossalen Doppelpilaster an den Wänden und die antikisierenden Reliefs als Supraporten verweisen auf eine strenge, klassizistische Raumordnung. Das Deckengemälde in diesem Saal zeigt die Grundsteinlegung des Palastes von Caserta im Jahr 1752. Die ehemaligen Gemächer des Thronfolgers sowie der Prinzen und Prinzessinnen wurden unter Ferdinand IV. und seiner Frau, Maria Karolina von Österreich, gänzlich umgestaltetet und entsprechen heute nicht mehr der von Vanvitelli entworfenen Innenausstattung. Die Königin Maria Karolina richtete sich im südöstlichen Flügel ihre Wohnräume ein, die noch heute dort zu besichtigen sind. Sie entsprechen dem Zustand und der Mode des ausgehenden 18. Jahrhunderts.

Schloss von Versailles

Abb. 19: Schloss Versailles als Dreiflügelanlage mit Cour d'honneur auf einem Gemälde von Pierre Patel (1605-1676)

4.) Vorbildbauten

Als ein Zentrum der Macht hat das Schloss von Versailles bei den Planungen für den Palast von Caserta in ideeller Hinsicht eine nicht zu unterschätzende Vorbildfunktion übernommen. Dies lässt sich - bis auf die Gestaltung der Schlosskapelle - jdoch nicht auf die achitektonische Umsetzung durch Luigi Vanvitelli übertragen. Weder im Grundriss noch in der Fassadengestaltung beziehen sich die Schlösser von Versailles und Caserta in besonderer Weise aufeinander. Während Versailles der klassischen Dreiflügelanlage mit Cour d’honneur entspricht (Abb. 19), bildet Caserta eine geschlossene Vierflügelanlage mit vier Innenhöfen.

Generell stand der in Rom geschulte Vanvitelli der französischen Baukunst und ganz besonders dem Schloss von Versailles voreingenommen gegenüber. Der Wunsch nach einem Palast nach Versailler Vorbild ging ausschließlich von Karl VII. und Maria Amalia von Sachsen aus. Vanvitelli schätzte dagegen die römische Architektur und lobte daher den berühmten dritten Entwurf des römischen Architekten Gian Lorenzo Bernini für die Ostfassade des Pariser Louvre (Abb. 20) nicht nur ausdrücklich, sondern orientierte sich bei der Fassadengestaltung Casertas auch an diesem. Dies drückt sich vor allem in der Betonung des Sockelgeschosses, in der Einbeziehung zweier Hauptgeschosse sowie in der Kombination eines durch Halbsäulen ornamental gesteigerten Mittelrisalits und zweier Eckrisalite aus (Abb. 1 und 20). In Berninis Entwurf ist der Mittelrisalit lediglich breiter ausgeführt, wodurch die Risalite insgesamt näher aneinander rücken. Vanvitelli verteilte außerdem die drei Durchgänge, die sich bei Bernini noch triumphbogenartig im Zentrum der Fassade befinden, auf den südwestlichen und den südöstlichen Flügel der Süd- und Nordfassade. Desweiteren kombinierte Vanvitelli, wie bereits erwähnt, Dreiecks- und Segementgiebel miteinander. Letztere erscheinen in Berninis Entwurf noch strikt nach Geschossen getrennt.

3. Entwurf für die Ostfassade des Louvre in Paris

Abb. 20: Der dritte Entwurf Berninis für die Ostfassade des Louvre

Spanien und Italien

Eine besondere Vorbildrolle in der architektonischen Gestaltung Casertas nehmen Spanien und Italien ein. Mit beiden Ländern war Karl VII. durch die Herkunft seiner Eltern dynastisch verbunden. Während Karls Vater Spanien regierte, entstammte seine Mutter der bedeutenden Familie Farnese, die im 16. Jahrhundert durch einige namenhafte Architekten wie Antonio da Sangallo d. J. und Michelangelo in Rom den Palazzo Farnese in der Form eines Würfelpalastes (Abb. 21) errichten ließ. Ähnlich wie beim Schloss von Caserta handelt es sich um eine Vierflügelanlage. Der Palazzo Farnese ist jedoch noch stärker horizontal gegliedert und als Stadtpalais auch deutlich kleiner und mit nur einem Innenhof versehen. Ein Vergleich hinsichtlich der Fenster zeigt, dass der Wechsel von Dreiecks- und Segmentgiebeln auf Höhe des piano nobile bereits in Rom angewandt wurde und in Caserta möglicherweise als ein architektonisches Zitat verstanden werden kann (Abb. 21, 1 und 13).

Auch die spanischen Königsschlösser, die Karl von Bourbon von frühester Kindheit her kannte, entsprachen oftmals der quadratischen oder rechteckigen Vierflügelanlage, wofür der Escorial (Abb. 22) wohl das berühmteste Beispiel darstellt. Letzterer weist zudem erhöhte Ecktürme auf, wie sie von Vanvitelli für die Reggia di Caserta ursprünglich geplant gewesen waren (Abb. 10 und 11). Hierfür gibt es weitere Beispiele in Spanien, darunter den Palacio Real de Aranjuez.
Hinsichtlich der Gestaltung der Fassaden lassen sich außerdem Parallelen zwischen Caserta und dem Palacio Real in Madrid feststellen. So erheben sich auf der Gartenseite des Palacio Real – ebenso wie in Caserta – über einem erhöhten Sockelgeschoss durchgängig an der gesamten Fassade Pilaster in Kolossalstellung (Abb. 12 und 23). Während das Motiv in Caserta auf die Nordfassade beschränkt bleibt, wird es in Madrid an der gesamten Fassade angewandt (Abb. 23 und 24). Trotz dieser Parallele kann daher im Falle Casertas nicht von einer Kopie des Schlosses von Philipp V. gesprochen werden, zumal in Madrid erst 1734, also zu einem Zeitpunkt als sich Karl bereits nicht mehr in Spanien aufhielt, mit dem Schlossneubau begonnen worden ist. Folglich hat Karl VII. das Schloss nicht gekannt. Dennoch dürfen dem König von Neapel und auch seinem Architekten Luigi Vanvitelli die Pläne bekannt gewesen sein, als siebzehn Jahre später, im Jahr 1751, mit den Planungen des Palastes von Caserta begonnen wurde. Eine gewisse Beeinflussung liegt nahe, da die Pläne für den Neubau des Palacio Real in Madrid der Architekt Filippo Juvarra lieferte, den Vanvitelli sehr schätzte. Selbst das architektonische Detail der eingezogenen Blendfenster über dem piano nobile wurde in Casera übernommen (Abb. 1, 12 und 23-24).
Es lohnt sich daher – wie aufgezeigt – der vergleichende Blick nach Spanien und Italien, obwohl in Caserta in dieser Dimension unbestritten etwas ganz eigenes entstanden ist.

5.) Der Park und seine Wasserspiele

Reggia di Caserta, Plan von Park und Schloss

Abb. 25: Übersichtsplan der Parkanlage: Die Wasserstraße verläuft in einer Achse mit dem Schloss

Den Park der Reggia di Caserta beherrscht, wie weiter oben bereits erwähnt, eine ca. drei Kilometer lange Wasserstraße, die in den Hügeln hinter dem Schloss in einer künstlich angelegten Kaskade entspringt (Abb. 25). Von dort aus fließt das Wasser bei leichtem Gefälle abwärts in Richtung Schloss. Auf seinem Weg passiert der Kanal mehrere Brunnen und Fontänen, die ein komplexes ikonographisches Programm aufweisen: Unmittelbar am Fuß der Kaskade eröffnet der Brunnen der Diana und des Aktäon (Abb. 26 und 27) den Reigen der Wasserspiele. Nur ein kurzes Sück weiter abwärts folgt zunächst der Venus und Adonis-Brunnen (Abb. 28-30) und im Anschluss daran reihen sich der Ceres- (Abb. 31) und schließlich der Juno und Aeolus-Brunnen (Abb. 32 und 33) ein. Letzterer blieb unvollendet, da unter anderem die Figur der Juno nicht ausgeführt wurde. Für diesen Brunnen ist daher auch die Bezeichnung Das Reich der Winde (Aeolus als Herrscher über die Winde) geläufig. Der Aeolus-Brunnen ist als einziges der vier skulpturenreichen Wasserspiele in eine ausladende Portikusarchitktur eingebunden und damit entweder als fulminanter Auftakt oder als triumphaler Höhepunkt der Wasserstraße zu verstehen, je nachdem aus welcher Richtung der Parkbesucher kommt. Das Wasser ergießt sich hier über die Architektur hinweg als Wasserfall in ein darunter liegendes Bassin.

Delphin-Brunnen

Abb. 34: Delphin-Brunnen als Abschluss der Wasserstraße im Park

Nachdem der Kanal Das Reich der Winde passiert hat, verläuft er - wie schon teilweise an anderer Stelle - unterirdisch und endet in der Nähe des Palastes mit dem Delphin-Brunnen (Abb. 34), wo das Wasser aus den Mäulern dreier Delphinfiguren strömt, in einem großen Fischteich.

Die Königin Maria Karolina ließ den barocken Garten ab 1782 um einen englischen Landschaftsgarten erweitern, der sich noch heute im nordöstlichen Teil des Parks befindet (Abb. 25). Er weist alle Charakteristika eines englichen Gartens, wie Staffagearchitektur und natürlich anmutende, kleine verschlungene Wege, auf. Das Bad der Venus (Abb. 35), versteckt zwischen Felsen und an einem Gewässer gelegen, gilt auf Grund des dargestellten intimen Moments als besonders reizvoll und sehenswert.

Bad der Venus

Abb. 35: Das Bad der Venus im englischen Landschaftsgarten des Parks von Caserta

6.) Schlussbetrachtung

Trotz aller Logik, die seitens des Architekten in die Planungen der Reggia eingeflossen ist und im Ergebnis zu einem spätbarocken Gesamtkunstwerk kaum gekannter Dimension geführt hat, lässt sich der Bau auch kritisch hinterfragen. So blieb das Schloss in gewisser Weise unvollkommen, wenn man an die Verteilung der königlichen Appartements denkt: Wollten der König oder die Königin ihre privaten Gemächer verlassen, mussten sie auf Grund der Unterbringung der Schlosskapelle im westlichen Querflügel sämtliche offizielle Empfangsräume und Paradesäle durchqueren, bevor sie in die Wohnungen ihrer Kinder oder in das zentrale Treppenhaus gelangten. Ebenso zu überdenken ist die Lage des Hoftheaters im Erdgeschoss, das die höfische Festgesellschaft lediglich über den nordwestlichen Innenhof erreichen konnte. Hierzu musste sie die Repräsentationsräume des piano nobile verlassen und in den Außenbereich des Erdgeschosses wechseln. Desweiteren darf es, bezogen auf das 18. Jahrhundert, als überaus risakant angesehen werden, dass die Wirtschaftsräume und Küchen in demselben Gebäude untergebracht waren, wie die Wohnappartements und Festsäle, ging doch von den Kochstellen eine deutlich gesteigerte Brandgefahr aus. Derlei Defizite und Einschränkungen legen dar, das dem Bedürfnis nach Repräsentation und der Demonstration von Macht wesentlich mehr Bedeutung beigemessen wurde, als der tatsächlichen praktischen Nutzbarkeit des Gebäudes.

Karl VII. hat sich mit dem Palast von Caserta in ideeller Hinsicht dennoch zweifelsohne den Traum einer barocken Palastanlage nach französischem Vorbild erfüllt. In den gewaltigen Ausmaßen der Anlage und in der axialen Verbindung von Schloss und unbegrenzter, künstlich geschaffener, arkadischer Landschaft im Park sollte sich der absolutistische Machtanspruch des jungen Regenten eindrucksvoll und unmssverständlich wiederspiegeln. Dieses Vorhaben ist Vanvitelli unter Berücksichtigung italienischer und spanischer Vorbildbauten mit Meisterschaft gelungen. Auf geniale Weise hat der Architekt den Palast, als Ausgangspunkt aller Macht im Königreich Neapel, der ausgedehnten Achse geradezu übergestülpt, was sich in der offenen Architektur des Erdgeschosses ausdrückt. Alle Wege führen durch sie hindurch und hinaus in den Garten. Sowohl dem einheimischen Adel, der sich dem Hof unterordnen sollte, als auch den übrigen Herrschern in Europa wurden durch diesen Bau die Größe und Stärke des, im Kräftemessen der europäischen Mächte, eher unbedeutenden Königreiches Neapel vorgeführt.

                                                                                                   Jan-Markus Göttsch

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7.) Weiterführende Literatur zum Thema

DIVENTO, Francesco: The Role of Queen Maria Amalia of Saxony in the Planning of the Royal Palace of Caserta, in: Creating Women. Representation, Self-Representation, and Agency in the Renaissance, hrsg. v. Manuela Scaraci, Canada 2013, S. 183-200.

GITTERMANN, Alexander: Die Ökonomisierung des politischen Denkens. Neapel und Spanien im Zeichen der Reformbewegungen des 18. Jahrhunderts unter der Herrschaft Karls III., hrsg. v. Jürgen Schneider [u. a.], Bamberg 2008.

HERSEY, George L.: Architecture, Poetry, and Number in the Royal Palace at Caserta, USA 1983.

KLUCKERT, Ehrenfried: Neapel (Kunst- und Reiseführer), Regensburg 1980.

KRUFT, Hanno-Walter: Die menschliche Pflicht, glücklich zu sein: Die Kolonie von San Leucio bei Caserta, in: Kruft, Hanno-Walter: Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, München 1989, S. 99-111.

NOACK, Friedrich: Vanvitelli, Luigi, in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. v. Hans Vollmer, Leipzig 1940, S. 103-105.

PISANI, Salvatore: Die Siti reali der Bourbonen, in: Neapel. Sechs Jahrhunderte Kulturgeschichte, Salvatore Pisani und Katharina Siebenmorgen (Hg.), Berlin 2009, S. 156-167.

SETA, Cesare de: The Royal Palace of Caserta by Luigi Vanvitelli: the Genesis and Development of the Project, in: The Triumph of the Baroque. Architecture in Europe 1600-1750, hrsg. v. Henry A. Millon, Italien 1999, S. 371-395.

THOENES, Christof: Das Bourbonenschloß von Caserta (1970), in: Opus incertum. Italienische Studien aus drei Jahrzehnten, hrsg. v. Christof Thoenes, München, Berlin 2002, S. 15-35.