Skip to main content

Graffiti und Street Art in Neapel

Neapel und die Genealogie der Graffiti

Neapel ist als Zentrum der modernen europäischen Graffiti- und Street-Art-Kultur zu begreifen. Im Kontext struktureller Probleme der Armut und Kriminalität scheint die mühselige Verfolgung der Street-Artists und Graffitist*innen keine Priorität des neapolitanischen Polizeiapparats darzustellen – optimale Bedingungen für die urbanen Künstler*innen, um ihre Botschaften weitestgehend ungestört im Stadtraum sichtbar zu machen. Ihre Werke, welche ohne offizielle Erlaubnis im öffentlichen Raum angebracht werden und somit das gesellschaftliche Postulat juristischer Legitimation ignorieren, prägen in ihrer Omnipräsenz das Stadtbild Neapels. Graffiti sind allerdings nicht als Phänomen des 21. Jahrhunderts zu begreifen, sondern sie sind Produkt eines genealogischen Entwicklungsprozesses, der historisch weit zurück reicht und unter anderem in konkreter Verbindung zum Raum der heutigen Metropolitanstadt Neapel steht. So war es in der römischen Antike üblich, öffentliche und private Gebäude als Medien der Mittelung zu nutzen. Dabei konnte es sich um offizielle Mittelungen wie Preislisten, Wahlsprüche oder Annoncierungen von Gladiatorenkämpfen handeln, die meist mit roter Farbe an die Häuserwände gemalt wurden – die sogenannten dipinti. Doch hinterließen auch Privatpersonen in Form von gekratzten Inschriften Botschaften im öffentlichen Raum. So leitet sich der Begriff „Graffiti“ etymologisch vom italienischen sgraffiare (dt. kratzen) ab, was wiederum in Verbindung zum griechischen „graphein“ (dt. schreiben, (auf)zeichnen, einritzen) steht (vgl. Hinz, S. 9-15). Die antiken Graffiti sind aus historischer wie auch linguistischer Perspektive als Zeugnisse des römischen Alltagslebens von Interesse. Es konnte sich dabei um banale Grußbotschaften, in fehlerhaftem Latein zitierte Dichterverse oder gar derbe Obszönitäten handeln, die einen Kontrast zum idealisierten Bild der schöngeistigen Antike bilden. Ephemer in ihrem Charakter ständen sie heute nicht mehr als Zeitdokumente zur Verfügung, hätte der Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. nicht zu der Konservierung einer Vielzahl antiker Graffiti in Pompeji geführt. Das Phänomen, unautorisiert Botschaften im öffentlichen Raum anzubringen, hat also eine Geschichte, die in besonderer Weise mit dem Raum um Neapel verknüpft ist. So soll die historische Linie im Folgenden weitergezogen und ein Blick auf Graffiti in der zeitgenössischen Ausprägung sowie auf die damit  genealogisch eng verknüpfte Street-Art geworfen werden.

Der „Aufstand der Zeichen“

Im wissenschaftlichen Diskurs wurde Graffiti und Street-Art bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil. Die Banalisierung der Thematik erscheint angesichts der Möglichkeit einer ernstzunehmenden Theoriebildung im Kontext macht- und ideologiekritischer Aspekte ungerechtfertigt. Eine der Leitfragen kann aus dieser Perspektive sein, ob und inwiefern Graffiti und Street-Art subversives Potential in Opposition zu einem kapitalistischen System entwickeln. Die wohl einzige wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens Graffiti von einem gewissen Bekanntheitsgrad stellt Jean Baudrillards Essay „Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen“ von 1976 dar, der sich mit den Anfängen von Graffiti im New York der späten 1960er Jahre auseinandersetzt. Der angesichts seiner radikal pessimistischen Ideen in den Feldern der Medientheorie und Semiotik umstrittene Baudrillard konstatiert den Umstand einer „Semiokratie“ (Baudrillard, S. 23) – einer Herrschaft der Zeichen also, die auch den städtischen Raum prägt und dabei vorrangig konsumistischen Prinzipien unterliegt. Das funktional durchorganisierte Zeichensystem der Stadt, bestehend aus Verkehrsschildern, Signaletik, Werbung, Medienbildern und Architektur als Insignien der Macht, folgt einer monopolistischen Logik, in welcher der „Unterschied zwischen Sendern und Empfängern, zwischen Produzenten und Konsumenten von Zeichen“ (Baudrillard, S. 23) immer ein absoluter ist. Dies führt zu einer linearen, eindimensionalen Kommunikationsstruktur ohne Möglichkeit einer gleichwertigen Antwort oder Reaktion. Von politischer Relevanz im Sinne der Subversion kann für Baudrillard nur sein, was die beschriebene Semiokratie attackiert. In Graffiti sieht er einen „neue[n] Typ der Intervention in die Stadt“ (Baudrillard, S. 25), welcher dem einseitigen, asymmetrischen Charakter der Kommunikation etwas entgegensetzt. Die Kommunikation über staatlich bzw. institutionell vorgegebene und somit auch regulierte Kanäle wird verweigert, indem ein neuer, ebenso asymmetrischer Kommunikationskanal eröffnet wird. Es kommt zu einer grundlegenden Störung und Destabilisierung des machtdurchwirkten städtischen Zeichensystems, welches es nicht schafft, die gesprühten, mit Markern geschriebenen oder eingekratzten Schriftzüge in den offiziellen Code der Stadt einzugliedern. Sie widersetzen sich ihm als Störelemente. Graffiti sind die Genese eines „Aufstand[es] der Zeichen“.

Wie ein solcher „Aufstand der Zeichen“ aussehen kann, zeigen die Werke von Clet Abraham (auch Clet genannt) in Neapel auf exemplarische Weise. Er eignet sich die infrastrukturelle Signaletik der Stadt an, indem er Verkehrsschilder als Ausgangspunkt seiner Arbeiten nimmt, deren eigentliche Botschaft jedoch überschreibt. Die Stadtzeichen werden als Bildelemente in die Arbeiten Clets eingegliedert und in neue Bedeutungskontexte gesetzt. So wird der Balken eines Einfahrt-verboten-Schildes beispielsweise zu einer Schaukel oder einem Puzzle umgedeutet. Häufig thematisiert Clet dabei in humoristischer Weise Ordnungshüter*innen. So wie die Werke also die Ordnung der Zeichen durcheinanderbringen, werden auch die Hüter*innen dieser Zeichenordnung, die pars pro toto immer auch als Ausdruck einer übergreifenden ideellen Ordnung gedacht werden muss, zum Ziel des Spottes.

Macht, Räume, Öffentlichkeit

Schon bei Baudrillard klingen auch machtkritische raumtheoretische Aspekte an, die immer in enger Verbindung zu der städtischen Semiotik stehen. So bezeichnet er die Stadt als „immenses Zentrum der Auslese und Einschließung“ (Baudrillard, S. 19) oder verweist auf die in „die Stadtpläne eingeschriebenen Verhaltensmodelle“ (Baudrillard, S. 22). Derartige Formulierungen scheinen beeinflusst von Henri Lefebvre, der in „Die Produktion des Raumes“ (1974) bereits ähnliche Beobachtungen festhält. Mit seinem Begriff des „konzipierten Raumes“ beschreibt er den „Raum der Wissenschaftler, der Raumplaner, der Urbanisten, der Technokraten“ (Lefebvre, S. 336), die Orten bestimmte Aktivitäten zuweisen. In den „konzipierten Raum“ ist somit eine symbolische Nutzungsanleitung eingeschrieben, die auf die Bewegungs- und Handlungsabläufe der Stadtbewohner*innen permanenten Einfluss nimmt. Die Gestalt der Stadt impliziert immer auch ihre Gebrauchsanweisung. Es wird ein Aspekt der Führung und Lenkung im städtischen Raum sichtbar – eine Art Stadtkybernetik, die sich im Kapitalismus in einem ganz konkreten Telos erschöpft: Konsum. Die Verfügung über Raum sieht Lefebvre als ein relevantes Instrument der Sicherung von Herrschaft im Kapitalismus. Machtpositionen können über Raumzugriffe etabliert werden. Ausschlaggebend für die Möglichkeit der Aneignung von Raum sind dabei vorwiegend ökonomische Kräfteverhältnisse. Kapital ermöglicht die Besetzung von Raum und somit auch die Kontrolle über Raum und seine Nutzung – eine Nutzung die möglichst in ökonomisch profitable Bahnen gelenkt werden soll (vgl. Morawski, S. 27 u. S. 38). Auch der öffentliche Raum als zentrale Instanz der Gesellschaftsbildung und des Gemeinwesens ist von diesen Prozessen betroffen. Im Zuge des westlich vorherrschenden neoliberalistischen Wirtschaftssystems kann eine zunehmende Privatisierung von Raum beobachtet werden, die zu einem Schwund öffentlicher Räume führt (vgl. Brendgens: 2005). Resultat dieser Privatisierungstendenz ist die machtschwangere Hybridform des privatisierten öffentlichen Raumes, beispielsweise in Form von Bahnhöfen oder Shopping Malls. Es handelt sich um einen öffentlichen Raum, der dem Regelkatalog von Machtinstanzen unterworfen ist. Im Zusammenhang damit kommt es zu Mechanismen der Inklusion und Exklusion. Soziale Akteure oder Gruppen, die dem Ziel der ökonomischen Nutzbarmachung nicht entsprechen und somit unerwünscht sind, können verdrängt werden, wodurch ein zentrales Charakteristikum des öffentlichen Raumes, die gleichberechtigte Nutzung aller, abhandenkommt. Die Konsequenz einer räumlichen Organisation durch nach konsumorientierten Prinzipien handelnden Akteuren ist der Verlust von öffentlichem Raum.

Graffiti und Street-Art können in diesem Kontext als Re-Appropriation von Raum begriffen werden. So kommt es im Zuge der beiden Phänomene zur semiotischen Besetzung eines Raumabschnitts, der zum Medium öffentlicher Botschaften transformiert wird. Eine solche offensive (Rück-)Aneignung von Raum hinterfragt die durch finanzielle Stärke legitimierten Eigentumsverhältnisse kritisch. Graffiti und Street-Art haben nach Baudrillard das Potential, Raum wieder zu „kollektive[m] Territorium“ (Baudrillard, S. 28) umzugestalten, da sie die hierarchische, lineare Kommunikationsstruktur der Semiokratie durchbrechen. Sie stellen – hier ist insbesondere der Entstehungskontext von Graffiti in den Ghettos der sozial marginalisierten und gesellschaftlich unterrepräsentierten schwarzen und hispanischen Bewohner*innen New Yorks Ende der 60er Jahre zu berücksichtigen – eine Möglichkeit der Sichtbarmachung dar, die nicht herrschaftlich autorisiert ist und somit auch keinen institutionell auferlegten Diskursregeln folgt. Graffiti und Street-Art können als relevante Medien der Stiftung einer neuen Öffentlichkeit in einer Gesellschaft fungieren, die durch ökonomisch motivierte Privatisierungsprozesse zu einer Verkümmerung des öffentlichen Raumes neigt.

Cyop & Kaf, Neapel, quartieri spagnoli

Cyop & Kaf, Gestaltung der quartieri spagnoli

Die beiden neapolitanischen Künstler Cyop & Kaf haben sich in diesem Sinne das Schaffen von öffentlichen Räumen in ihrer Heimatstadt zur Aufgabe gemacht. Ihre Werke sind in ganz Neapel zu finden, insbesondere jedoch in den quartieri spagnoli, welches die Künstler zwischen 2008 und 2015 mit über 200 Arbeiten zu einem inoffiziellen Freiluftmuseum gestaltet haben (auf ihrer offiziellen Seiten findet sich eine digitale Karte aller Werke in den quartieri spagnoli: http://www.cyopekaf.org/en/qs-map/). Die schonungslos gesellschaftskritischen Implikationen werden von einem an Künstler wie Joan Miró oder Paul Klee erinnernden Stil kontrastiert, der in seiner expressiven Farbgestaltung und der abstrahierenden Formgebung von einer gewissen spielerischen Naivität geprägt ist. Das Spiel beschreibt schon Schiller in „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ als Mittel, um den durch die fortschreitende Mechanisierung und das effizienzorientierte Postulat des Zweck-Nutzen-Denkens von der Welt entfremdeten, in seiner Persönlichkeit zersplitterten Menschen zurück zur Ganzheitlichkeit zu führen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller, S. 63). Die durch Cyop und Kaf vorgenommene farbenfrohe Verwandlung der durch Armut und Arbeitslosigkeit geprägten quartieri spagnoli zu einem inoffiziellen Freiluftmuseum gewinnt in diesem Kontext des Spielerischen an sozialer Relevanz – eine künstlerische Transformation, die jedoch angesichts des kritischen Umganges mit den Missständen des Stadtviertels in den Werken ambivalent bleiben will und sich der Instrumentalisierung als ästhetischer Schleier über den grundlegenden sozialen Problemen des Viertels verweigert.

Werkauswahl Cyop & Kaf, Neapel, quartieri spagnoli

Werkauswahl Cyop & Kaf, Neapel, quartieri spagnoli, 2008-2015

"Sublimation" zur offiziellen öffentlichen Kunst

Graffiti und insbesondere Street-Art stellen jedoch gerade in Neapel kein rein subkulturelles Phänomen dar, sondern haben längst das Interesse der staatlich-institutionellen Seite erregt. So wurden für das Projekt parco dei murales international bekannte Street-Artists engagiert, um die Wände einer Wohnanlage im ökonomisch schwachen Bezirk Ponticelli am Stadtrand Neapels zu gestalten und so der Tristesse dieser von Armut und Kriminalität geprägten Gegend ästhetisch entgegenzuwirken. Von offizieller Seite subventioniert sind auch die Wandmalereien Francisco Bosolettis, von denen vor allem zwei Arbeiten hervorstechen, die in der Optik von Fotonegativen auf die Wände gebracht wurden und mit entsprechender Kamerafunktion in ein Positivbild gewandelt werden können, wodurch sie implizit zum Perspektivwechsel auffordern und die topische Frage nach Urbild und Abbild aufwerfen. Das Werk „Madonna with a Pistol“, welches der weltweit wohl bekannteste Street-Artist Banksy in Neapel hinterlassen hat, ist, nachdem eine andere Arbeit Banksys in Neapel übermalt wurde, von staatlicher Seite durch eine Glasscheibe unter Schutz gestellt worden.

Verwendete Literatur

Baudrillard, Jean: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen. In: Jean Baudrillard: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen. Berlin: Merve 1978. (= Merve-Titel, Bd. 79), S. 19-39.

Brendgens, Guido: Vom Verlust des öffentlichen Raums. Simulierte Öffentlichkeit in Zeiten des Neolibralismus. In: Utopie kreativ 12 (2005). H. 182, S. 1088-1097.

Hinz, Harald: Vom Ritzen zum Schreiben. Zur Etymologie von Graffiti. In: Ralf Beuthan/Pierre Smolarski (Hg.): Was ist Graffiti? Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 9-15.

Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer 2013. (= Fischer Wissenschaft, Bd. 7404).

Lefebvre, Henri: Die Produktion des Raums. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012. (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1800), S. 330-342.

Morawski, Tobias: Reclaim Your City. Urbane Protestbewegungen am Beispiel Berlins. Hamburg/Berlin: Assoziation A 2014.

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen. Stuttgart: Reclam 1993.

Stoichiță, Victor I.: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München: Fink 1998. (= Bild und Text). [Zugl.: Diss. Paris, 1989].